Passives Wahlrecht bei relativer Geschäftsfähigkeit? (Wahlen)

Phönix, NRW, Thursday, 20.10.2022, 19:22 (vor 553 Tagen)

Hallo zusammen,

die Umstände können nicht einfach beschrieben werden, aber nehmen wir an, dass eine Person als Beschäftigter einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung immer mal wieder einen gesetzlichen Betreuer hatte. Ob aktuell eine Betreuung besteht, ist derzeitig unklar. In der Vergangenheit wurde die Person als schwierig und auch toxisch beschrieben, was auch zu häufigen Wechseln bei den Betreuern geführt hat. Innerhalb der Werkstatt gab es ebenfalls häufige Wechsel in den verschiedenen Arbeitsbereichen.

Mit unterstützenden Maßnahmen hat es diese Person geschafft ein Arbeitsverhältnis in einem Unternehmen zu erhalten (was lobenswert ist), in welchem nun eine Wahlversammlung abgehalten wurde.

Die Person versteht es dem eigenen Unvermögen eine solide wirkende Fassade zu geben. Die Teilnehmer der Wahlversammlung kannten sich zum Teil nicht persönlich. Die bisherige SBV, welche diese Person kennt, wurde bedingt durch eine Erkrankung in Abwesenheit wiedergewählt. Bei der Suche nach einem Stellvertreter hat man dann jenen welchen vorgeschlagen und gewählt, da dieser an diesem Abend einen guten Eindruck gemacht hat.

Den Anwesenden war nicht klar oder deutlich, dass sie hier jemanden gewählt haben, der im Kern nicht dazu in der Lage ist die Funktion eines Stellvertreters auszufüllen. Nüchtern betrachtet eine schlechte Wahl, die wohl im Moment erstmal nicht beanstandet werden kann.

Die SBV hat mich nun um Rat gefragt, denn auch ihr ist bewusst, dass ihr frisch gewählter Stellvertreter den Anforderungen nicht gerecht werden kann. Ausdrücklich möchte ich ausführen, dass es nicht darum geht, einen ungeliebten Stellvertreter loszuwerden. Vielmehr haben wir eine Verkettung unglücklicher Umstände, welche im Ergebnis für alle Mitarbeitenden mit Schwerbehinderung oder Gleichstellung im Unternehmen keine Hilfe bringen wird.

Daher wird nun geprüft, ob die Wahl anfechtbar ist. Dabei ist auch die Frage aufgetaucht, ob eine Person mit relativer Geschäftsfähigkeit als Stellvertreter überhaupt wählbar ist?

Gruß
Phönix

Passives Wahlrecht bei relativer Geschäftsfähigkeit?

albarracin, Baden-Württemberg, Friday, 21.10.2022, 09:21 (vor 552 Tagen) @ Phönix

Hallo,

es gibt hierzu in der Literatur eine eindeutige Antwort.

Geschäftsfähigkeit hat der Gesetzgeber ausdrücklich nicht als Voraussetzung für das aktive Wahlrecht bei SBV-Wahlen normiert.

So schreibt Düwell in LPK-SGB IX, § 177 Rn 13:
"Da § 177 Abs. 2 SGB IXweder auf das Bestehen eines Arbeitsverhältnisses noch eines öffentlich-rechtlichen Dienstverhältnisses sonder auf die Eigenschaft "beschäftigt" abstellt, sind schwerbehinderte Menschen unabhängig davon, ob sie rechtsgeschäftsfähig sind, wahlberechtigt. Dies gilt insbesondere für Beschäftigte, die geschäftsunfähig gem. § 104 Abs. 2 BGB sind oder unter gesetzlicher Betreuung (§ 1896 BGB) stehen."

Die vom BIH noch 2018 vertretene abweichende Meinung wurde aufgrund der Entscheidung des BVerfG vom 29.01.2019, 2 BvC 62/14 zu Wahlrechtsausschlüssen im BWahlG aufgegeben:
"Das Vorliegen der Geschäftsfähigkeit (vgl. § 104 BGB) ist keine Voraussetzung für die Wahlberech-
tigung. Ein unter gesetzlicher Betreuung (§ 1896 BGB) stehender behinderter Mensch kann von
seinem aktiven Wahlrecht Gebrauch machen..."

("ZB Spezial Wahl der Schwerbehindertenvertretung", Ausgabe 2022, S 37)

--
&Tschüß

Wolfgang

Passives Wahlrecht bei relativer Geschäftsfähigkeit?

bifavi, Hessen, Friday, 21.10.2022, 10:37 (vor 552 Tagen) @ albarracin

Hallo ihr Beiden,

irgendwie verwirrt ihr mich.

Den Starter hab ich so verstanden, ob ein vermutlich ehemaliger teilgeschäftsfähiger Mensch wählbar ist.
Also passives Wahlrecht § 177 Abs.3 SGB IX

Albarracin bezieht sich auf das aktive Wahlrecht.
Für das aktive Wahlrecht gebe ich Albarracin recht.

Für das passive Wahlrecht gibt es im ZB Spezial SBV Wahl 2022. ab Seite 41, eine Aufstellung, wer nicht wählbar ist.


LG
Bifavi

Passives Wahlrecht bei relativer Geschäftsfähigkeit?

albarracin, Baden-Württemberg, Friday, 21.10.2022, 11:13 (vor 552 Tagen) @ bifavi

Hallo,

da hat bifavi natürlich recht.

Abgesehen von den allgemeinen Vorschriften der Wählbarkeit gem. BetrVG bzw. PVG sind lt. Düwell in LPK-SGB IX, § 177 Rn 20 nur Personen vom passiven Wahlrecht ausgeschlossen, die geschäftsunfähig iSd § 104 Abs. 2 BGB sind.
Eine Betreuung gem. §§ 1896ff BGB ist nicht gleichzusetzen mit Geschäftsunfähigkeit und begründet für sich keinen Ausschluss vom passiven Wahlrecht.

--
&Tschüß

Wolfgang

Passives Wahlrecht bei relativer Geschäftsfähigkeit?

Hendrik1, Niedersachsen, Friday, 21.10.2022, 11:44 (vor 552 Tagen) @ Phönix

Moin Moin Phönix,

ich würde mit dem Betroffenen reden und die umfangreichen Aufgaben als SBV erläutern. Falls er sich selber dem nicht voll gewachsen fühlt, könnte er auch zurücktreten und somit normal Neuwahlen des stellvertretenden Mitglieds stattfinden.

Alternativ könnte er auch mit der Begründung - wenn sie denn vorliegt - zurücktreten, dass er höhere Fehlzeiten hat und es somit besser wäre, zwei stellvertretende Mitglieder zu haben. Da dieses per Nachwahl nicht erfolgen kann, bleibe ihm nur der Rücktritt.

Liebe Grüße

Hendrik

Passives Wahlrecht bei relativer Geschäftsfähigkeit?

Phönix, NRW, Friday, 21.10.2022, 18:58 (vor 552 Tagen) @ Hendrik1

Hallo zusammen,

für die Rückmeldungen bedanke ich mich.

Heute konnte zumindest aufgeklärt werden, dass für den nun gewählte Stellvertreter mittlerweile keine Betreuung mehr besteht und dieser voll geschäftsfähig ist. Von dem Standpunkt aus betrachtet, hat dieser das aktive und passive Wahlrecht. Meine Fragestellung ist damit beantwortet.

Trotzdem finde ich die Thematik interessant, wenn ein Kandidat mit kognitiven Beeinträchtigungen in ein solches Amt gewählt wird. Es sollte im Einzelfall betrachtet werden, ob das funktionieren kann. Und wenn ja, warum nicht?

In dem von mir geschilderten Fall ist es leider so, dass die kognitiven Beeinträchtigungen eine reguläre und vertrauensvolle Vertretung der SBV ausschließen. Auch glaube ich, dass dies eine eher seltene Konstellation darstellt, in der es jemand geschafft hat, nicht nur seine mangelnde Eignung zu verbergen, sondern sich auch noch als guten Kandidaten zu verkaufen.

Der Ansatz von Hendrik das Gespräch zu suchen ist zwar sehr gut, wird in diesem Fall aber leider nicht funktionieren. Bei Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen kann es sehr schwierig sein und in diesem Fall wird es definitiv so sein!

Man wird sicherlich in der nächsten Woche die Wahlversammlung auf Fehler prüfen. Sollte alles einwandfrei sein, muss sich die SBV ein paar Gedanken dazu machen, wie sie mit der Situation umgeht. An ihrer Stelle würde ich erstmal Vertretungssituation vermeiden.

Gruß
Phönix

Passives Wahlrecht bei relativer Geschäftsfähigkeit?

magheinz ⌂, Friday, 11.11.2022, 12:03 (vor 531 Tagen) @ Phönix

Hallo zusammen,

für die Rückmeldungen bedanke ich mich.

Trotzdem finde ich die Thematik interessant, wenn ein Kandidat mit kognitiven Beeinträchtigungen in ein solches Amt gewählt wird. Es sollte im Einzelfall betrachtet werden, ob das funktionieren kann. Und wenn ja, warum nicht?

In dem von mir geschilderten Fall ist es leider so, dass die kognitiven Beeinträchtigungen eine reguläre und vertrauensvolle Vertretung der SBV ausschließen. Auch glaube ich, dass dies eine eher seltene Konstellation darstellt, in der es jemand geschafft hat, nicht nur seine mangelnde Eignung zu verbergen, sondern sich auch noch als guten Kandidaten zu verkaufen.

Wer beurteilt das denn?

Passives Wahlrecht bei relativer Geschäftsfähigkeit?

Phönix, NRW, Thursday, 22.12.2022, 08:17 (vor 490 Tagen) @ magheinz

Tja, wer beurteilt das?

Der gewählte 1.Stellvertreter wurde von mir, in meiner Funktion als Gruppenleiter in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung, einige Jahre als Beschäftigter betreut. Beschäftigter ist die Bezeichnung für Menschen mit Behinderung in einer Werkstatt, der Gruppenleiter ist Mitarbeiter der Werkstatt. Ein Gruppenleiter betreut eine Gruppe von 9 bis 12 (und mehr) Beschäftigte.

In dieser Zeit bestand für den nun gewählte 1.Stellvertreter eine Betreuung für finanzielle Angelegenheiten und Behördenangelegenheiten. Im Kern wird damit einem Beschäftigen die Bürokratie abgenommen, da diese selbst damit überfordert ist.

Wie schon beschrieben, hat er es geschafft Mitarbeiter in einem Unternehmen zu werden. Dieser Unternehmen ist eine 50%tige Tochter vom Träger der Werkstatt für Menschen mit Behinderung, für die ich als SBV zuständig bin. Die Tochtergesellschaft hat eine eigenständige SBV, mit der ich eng im Erfahrungsaustausch stehe.

Wie in meinem ersten Beitrag umschrieben, war die SBV auf der Wahlversammlung krankheitsbedingt verhindert. Sie hätte in der Wahlversammlung dafür gesorgt, dass man über die Eignung der Kandidaten spricht. Dies ist in meinen Augen nichts verwerfliches, sondern dann auch geboten. Damit würde die Wahlversammlung beurteilen, wer als Kandidat geeignet ist.

Gruß
Phönix

Passives Wahlrecht bei relativer Geschäftsfähigkeit?

magheinz ⌂, Thursday, 22.12.2022, 09:43 (vor 490 Tagen) @ Phönix

Die Frage ist doch: Hat er jetzt noch einen gesetzlichen Betreuer oder nicht oder hat er aus anderen Gründen sein Wahlrecht verloren?

Wenn nicht, könnte er ja sogar für den Bundestag kandidieren.

Es ist doch, wenn alle rechtlichen Ausschlüsse nicht greifen, die Aufgabe der Wähler zu entscheiden.

>Sie hätte in der Wahlversammlung dafür gesorgt, dass man über die Eignung der
>Kandidaten spricht. Dies ist in meinen Augen nichts verwerfliches, sondern dann auch
>geboten.

Das kommt auf die Argumente an. Ob das geboten ist, ist so eine Frage. Am Ende haben Gerichte darüber zu entscheiden, wer an Wahlen teilnehmen darf.

Die SBV kann ja auch nur allgemein über die Eignung reden. So wie auch über jeden anderen Kandidaten. Ich wäre da aber eher vorsichtigt.

Mein Vertrauen hätte diese Vertrauensperson eventuell verloren.

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