betriebsbedingte Kündigung ohne Arbeitsrechtsschutz (Allgemeines)

fisch21, Saturday, 28.06.2025, 20:42 (vor 139 Tagen)

Hallo zusammen,

leider habe ich bzgl. Kündigungen noch keinerlei Erfahrungen und ich hoffe auf entsprechendes Feedback.

Ein 64-jähriger schwerbehinderter Mitarbeiter (GdB 80) erhielt letzten Freitag die Info, dass er umgehend gekündigt wird, weil die ganze Abteilung aufgelöst werden soll. Es gab KEINERLEI Prävention im Sinne des § 164 Absatz 1 SGB IX. Die Schwerbehindertenvertretung wurde lediglich über die bevorstehende Kündigung informiert und die Zustimmung beim Integrationsamt seitens des AG beantragt. Es ist jedoch zu erwarten, dass das Integrationsamt der betriebsbedingten Kündigung zustimmt.

Aktuell gibt es eine externe Stellenausschreibung für eine Position, die dieser Mitarbeiter aufgrund seiner beruflichen Laufbahn ausüben könnte. Dieser Mitarbeiter ist leider erst seit 30 Monaten im Unternehmen festangestellt. Vorher war er 5 Jahre als Freelancer für diese Firma aktiv. Da er aber während dieser 5 Jahre keine anderen Kunden hatte, war es eigentlich in dieser Zeit eine Scheinselbstständigkeit. Wäre der Mitarbeiter in diesen 5 Jahren korrekt angestellt gewesen und nicht "scheinselbständig", dann hätte er 7,5 Jahre in unserer Firma angestellt gewesen. Die SB-Eigenschaft hat er erst seit 04/2024.

Ziel dieses Mitarbeiters ist es eigentlich nur eine Weiterbeschäftigung bis Ende 2025 zu erreichen, da er dann 36 Monate festangestellt wäre und damit als über 55 jähriger Anspruch auf 18 Monate Arbeitslosengeld I (anstatt 12 Monate) hätte. Dieser Mitarbeiter möchte nun in einem Gespräch mit der Geschäftsleitung entweder eine Weiterbeschäftigung erreichen oder aufgrund seines angeschlagenen Gesundheitszustandes einen Auflösungsvertrag mit dem Beschäftigungsende 31.12.2025 aushandeln. Er präferiert sogar den Auflösungsvertrag mit dem Vertragsende Ende 2025.

Leider hat dieser Mitarbeiter KEINEN Arbeitsrechtsschutz. Sollte der AG aber stur bleiben und ihn trotz aller Argumente im nächsten Monat (Kündigungsfrist nur 1 Monat) kündigen, dann stellt sich die Frage, ob er privat einen Arbeitsrechtler beauftragen sollte und gegen diese Kündigung vorgehen sollte.

Ich hätte dazu folgende Fragen:
1. Wie seht ihr die Chancen, dass der AG mit dieser Kündigung durchkommt?
2. Würdet ihr d. Mitarbeiter raten auf private Kosten einen Arbeitsrechtsanwalt/in zu beauftragen?
3. Was könnte er als Argumente beim AG für einen Aufhebungsvertrag mit e. arbeitsvertraglichen Ende zum 31.12.25 anbringen?


Im voraus vielen Dank für Eure Unterstützung.

betriebsbedingte Kündigung ohne Arbeitsrechtsschutz

albarracin, Baden-Württemberg, Monday, 30.06.2025, 09:35 (vor 138 Tagen) @ fisch21

Hallo,

konkrete Einzelfälle per "Ferndiagnose" bewerten zu wollen, ist ohne Kenntnis aller konkreten Rahmenbedingungen nicht besonders seriös. Dafür fehlen auch in Deiner Fallschilderung viel zu viele wichtige Fakten.

Wenn kein Arbeitsrechtsschutz besteht, muß dieser Mensch auch die Konsequenzen für sein Handeln bzw. Unterlassen tragen. Darauf muss ihn auch eine SBV hinweisen.

Allerdings gibt es zwei allgemeine Hinweise, die Du diesem sbM nochmals zum Überlegen geben solltest:

1. Der Steueranteil einer Altersrente steigt mit jedem Kalenderjahr, an dem die Rente beginnt, an. Das bedeutet in dem von Dir geschilderten Fall, daß bei Renteneintritt zum 01.01.2026 zumindest ein Teil der "eingesparten" Abschläge im Vergleich zu einem Rentenbeginn 2025 aufgezehrt wird.

2. Sowohl der sbM als auch Du haben offensichtlich übersehen, daß es im § 147 Abs. 2 SGB III zwischen dem Anspruch auf 12 Monate bzw. 18 Monate ALG1 noch eine "Zwischenstufe" gibt.
Bei 30 (!) Versicherungsmonaten und Lebensalter mindestens 50 erhöht sich die Bezugsdauer von ALG1 auf 15 (!) Monate.
https://www.gesetze-im-internet.de/sgb_3/__147.html

--
&Tschüß

Wolfgang

betriebsbedingte Kündigung ohne Arbeitsrechtsschutz

fisch21, Tuesday, 01.07.2025, 10:00 (vor 137 Tagen) @ albarracin

Hallo Wolfgang,

herzlichen Dank für Deine wertvollen Informationen.
Das mit den 15 Monaten ALG I Bezug war mir neu. Danke.

Viele Grüße
Karl

betriebsbedingte Kündigung ohne Arbeitsrechtsschutz

garda, Berlin, Monday, 30.06.2025, 09:45 (vor 138 Tagen) @ fisch21

Hallo fisch21,

ein Präventionsverfahren hat mit dieser Angelegenheit nichts zu tun.

Wenn ein ganzer Bereich aufgelöst werden soll ist es eigentlich üblich einen Sozialplan zu verhandeln. Davon lese ich hier nichts. Zuständig wäre der Betriebsrat. Gibt es so etwas? In solchen Fällen hat üblicherweise das Inklusionsamt kaum Handlungsspielraum und muss meist zustimmen.

Jetzt zu deinen Fragen:

bei so lückenhaften Angaben wäre jede Prognose einer Erfolgsaussicht fahrlässig.

Warum besteht kein Rechtsschutz? Ehrlich gesagt bringe ich dafür keinerlei Verständnis mehr auf. Man spart sich Versicherung und/oder Gewerkschaft und dann wird rumgeheult wenn es einen selbst doch trifft.

Klagt er nicht ist der Job eben weg, Pech gehabt. Eine Chance auf eine Weiterbeschäftigung kann in der Güteverhandlung vor dem Arbeitsgericht ausgelotet werden, wenn der AG nicht vorher darauf eingeht. Wenn kein Anwalt genommen wird, ist es bis dahin sogar kostenlos und man spart schon wieder.

Die Scheinselbstständigkeit mag es gegeben haben, ändert aber hier nichts. Wenn er den AG ärgern will, kann er nachträglich noch ein Statusfeststellungsverfahren bei der DRV beantragen. Kostet nichts, scheint ja wichtig zu sein, kann aber nachträglich mehrere Jahre Rente bringen, da der AG haftet wenn es so war...

--
Mit freundlichen Grüßen

Michael

betriebsbedingte Kündigung ohne Arbeitsrechtsschutz

fisch21, Tuesday, 01.07.2025, 09:57 (vor 137 Tagen) @ garda

Hallo Michael,

vielen Dank für Deine ausführlichen Informationen. Einen Betriebsrat gibt es leider nicht.

Der aufgelöste "Bereich" ist lediglich 1 sehr kleine Abteilung mit nur 2 Mitarbeitern (!). D.h. es wird KEIN Betrieb stillgelegt. Ein Sozialplan ist vermutlich wegen e Auflösung einer Abteilung mit 2 Mitarbeitern nicht nötig.

Viele Grüße
Karl

betriebsbedingte Kündigung ohne Arbeitsrechtsschutz

albarracin, Baden-Württemberg, Monday, 30.06.2025, 11:25 (vor 138 Tagen) @ fisch21

Hallo,

weil ich vorhin nicht so viel Zeit hatte, hier noch ein Nachtrag zur Rolle der SBV:

1. Eine Teilstilllegung fällt nicht vom Himmel. Hat Dich der AG denn frühzeitig informiert, wie es gem. § 178 Abs. 1 Satz 1 SGB IX seine Pflicht gewesen wäre? Falls ja, hast Du ein Präventionsverfahren verlangt?

2. Ein Präventionsverfahren ist auch notwendig, wenn die Schwierigkeiten "betriebsbedingt" sind. Das gilt grundsätzlich auch für Stilllegungen. (Düwell in LPK-SGB IX, § 167 Rn 24).

3. Das Integrationsamt muss Dich gem. § § 170 Abs. 2 SGB IX zur Stellungnahme auffordern. Ist das bereits geschehen? Spätestens bei dieser Stellungnahme solltest Du auf den nach Deiner Meinung zur Verfügung stehenden Ersatzarbeitsplatz hinweisen.

4. Das Integrationsamt hat bei Stilllegungen nur dann einen eingeschränkten Ermessensspielraum zugunsten des AG, wenn die Bedingungen des § 172 Abs. 1 Satz 1 und 2 erfüllt sind.

Sorry, aber das ist für die Beteiligung und Einflußnahme der SBV gar kein so eindeutiger Fall, wie Du es darstellst oder Dir gefallen lässt.

--
&Tschüß

Wolfgang

betriebsbedingte Kündigung ohne Arbeitsrechtsschutz

fisch21, Tuesday, 01.07.2025, 10:12 (vor 137 Tagen) @ albarracin

Hallo Wolfgang,

vielen Dank. Der AG hat nie ein Präventionsverfahren durchgeführt, auch hat er mich nicht über bestehende Probleme informiert.

Weil ich auch zu keiner Stellungnahme vom Integrationsamt aufgefordert wurde, habe ich gestern beim Integrationsamt angerufen. Ein Antrag auf Zustimmung war erst am Tag meines Anrufes (gestern morgen) eingegangen. D.h. der AG hat den Mitarbeiter beim letzten Gespräch bewußt angelogen... . Der AG sagte nämlich wortwörtlich, dass er die Zustimmung des Integrationsamtes schon vorliegen hätte.

Du hast natürlich recht mit dem fehlenden Arbeitsrechtsschutz. Aber dieser betroffene Kollege ist wirklich sehr schwer und unheilbar krank, so dass ich ihn mit allen meinen Möglichkeiten unterstützen möchte. Letztendlich geht es ihm nur um ein paar Monate Anstellung bis zum Jahresende 2025.

Viele Grüße + nochmals vielen Dank für Deine Hilfe
Karl

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